Die Mitschuld

Die Frage nach der Mitschuld ist bei genauem Hinterfragen in einigen Fällen eine äußerst problematische, weil sie einen großen Graubereich der Gesellschaft betrifft, der vordergründig klare Regeln hat, die offiziell korrekt angeführt werden, aber der zahlreiche schmutzige Hinterhöfe in der individuellen Gedankenwelt aufweist, denen man sich ungern stellen mag.

Wenn etwa der Innenminister des Bundesstaates Madhya Pradesh die überfallenen Schweizer Touristen für die erlittene Vergewaltigung mitverantwortlich macht, weil diese die Polizeipräsidenten der Distrikte, die sie besuchen, nicht über ihre Reisepläne informiert hätten, ist das zunächst blanker Unsinn. Denn zum Einen hätte die Polizei die Tat nicht verhindert (es ist zumindest nicht anzunehmen, dass sie eine Eskorte geschickt hätte) und zum anderen sind bei derartigen Taten allein die Täter verantwortlich und niemals die Opfer.

Doch dieser Grundsatz ist nicht solide verankert, wie man glauben mag oder es gerne hätte. Denn der eine oder andere mag sich schon fragen, ob es schlau war, zu zweit in ein unbekanntes Gebiet zu fahren, in einem Land das ohnehin gerade wegen einer hohen Zahl von Vergewaltigungen im Licht der Öffentlichkeit steht. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, sagt der Volksmund. Und auch im „zivilisierten“ Europa ist die Meinung allzuweit verbreitet, dass kurze Röcke, Männer zu Vergewaltigungen geradezu auffordern und die Opfer eventuell sogar vollumfänglich „selbst schuld“ sind.

Diese Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Konsenz und vereinzelndem Denken führt in der Praxis zu Problemen, die man nicht so leicht durch theoretische Grundsatzforderungen lösen kann. Sehr oft gibt es Situationen, in denen man juristisch und moralisch im Recht steht, aber real damit rechnen muss, dass einem dieses genommen wird. Viele vermeiden es, nachts bestimmte Gegenden alleine aufzusuchen und die wenigsten werden bei einem brutal aussehenden Schlägertypen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung bezüglich dessen wenig stilvollen Outfits wahrnehmen. Wir kennen diese Schranken im Leben und müssen mit mehr oder weniger großem Unwohlsein hinnehmen, dass es in der Praxis rechtsfrei Räume gibt, die es eigentlich nicht geben sollte. Oder auch, dass es anderswo Rechtssysteme gibt, die wir nach unserem Maßstäben für unzumutbar halten.

Was wir jedoch tun können, ist es gegen rechtsfreie Räume einzuschreiten. Und dazu gehört auch, dass Opfer niemals „selbst Schuld“ sind, wenn sie es objektiv nicht sind. Auch, wenn sie Dinge getan haben, die man selber ganz offensichtlich besser nicht gemacht hätte und die man umgangssprachlich eventuell als „dumm“ bezeichnen würde – und das geht bereits im Kleinen los.

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