Stuttgart21 nachgetreten

Intervies mit Frau Slomka

Beinahe so sehr, wie die Bilder des Polizeieinsatzes in Stuttgart erschrecken mich, die Aussagen, die im Nachhinein von Befürwortern und nicht zuletzt vom Innenminister von Baden-Württemberg Heribert Rech und Ministerpräsident Stefan Mappus getätigt werden. Ein derartiges Lavieren, Relativieren und Diskreditieren ist menschlich wie politisch unverantwortlich. Einen guten Eindruck von derartigen Aussagen findet sich in den Interviews, die Marietta Slomka mit beiden geführt hat. In diesem Fall kann ich Frau Slomka nur Dank und Hochachtung für ihren Interviewstil und ihre gezielten Nachfragen zollen. Beinahe symptomatisch für den derzeiten Herrschaftsanspruch der Politik ist da meine automatische Angst, dass Frau Slomka irgendwann für diese Interviews beruflich benachteiligt wird und Stück für Stück vom Bildschirm verdrängt wird. Es wäre sicher zumindest eine Überlegung wert, ihr Erscheinen bei relevanten Interviews in den nächsten Monaten statistisch zu verfolgen. Ich hoffe, dass es dann im Zweifelsfall auch eine Öffentlichkeit, die ihr zur Seite steht.

Interview mit Heribert Rech:

Interview mit Stefan Mappus:

Falschaussagen

Folgende Aussagen, die sich teilweise auch in den obigen Interviews wiederfinden, werden viel zu häufig gemacht:

  • „Die Gewalt ging von den Demonstranten aus …“

Eine Aussage, die so gut wie nicht belegt wurde, außer durch die Aussage von Polizisten. Derartigen Aussagen von unmittelbar Beschuldigten per se zu glauben, macht Polizeibeamte somit faktisch zu besseren Menschen. Etwaige Probleme wie vergangene Fälle von falsch verstandenem Korps-Geist spielen dabei anscheinend keine Rolle. Ich habe zahlreiche Videos im Fernsehen und im Internet gesehen und konnte auf keinem gewaltbereite Demonstranten erkennen, hingegen fanden sich Belege für prügelnde Polizisten, das versuchte Herunterstrahlen von Demonstranten, die meterhoch in den Bäumen saßen und dem scheinbar wahllosen Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray. Nicht bestreiten möchte ich, dass es zu gewalttätigen Aktionen einzelner Demonstranten gekommen sein kann, die Flaschen und Kastanien geworfen haben. Ein solches Verhalten ist ebenso unrecht, weil sie körperliche Gewalt gegen Menschen darstellt, auch wenn diese sich in einer Kampfmontur befinden. Und sie ist töricht, weil sie den Verantwortlichen Material liefert, absichtlich(?) fälschlicherweise von Steinewerfen zu berichten.

  • „… und deshalb ist in Extremfällen der Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray erforderlich.“

Abgesehen davon, dass es anscheinend keinen Extremfall gegeben hat, ist der Angriff auf die friedliche und unbeteiligte Mehrheit, die bestenfalls einen passiven Widerstand ausübt, unverhältnismäßig und damit Unrecht. Dieser Absatz ist zwar besonders kurz, darum sollte man ihn vielleicht zweimal lesen, da er wichtig ist.

  • „Eltern haben ihre Kinder als Schutzschilde missbraucht.“

Auch dafür gibt es keinerlei Belege, dennoch darf dieses „glaubwürdig“ behauptet werden. Eltern die derartiges täten, wären jedoch bestenfalls erziehungstechnisch zu hinterfragen. Das Unrecht geht jedoch von der Polizei aus, wenn sie im Einsatz mit massiver körperlicher Gewalt gegen diese Kinder und Eltern vorgeht. Der viel propagierte Einsatz „einfacher Gewalt“, also etwa das Wegtragen von Demonstranten hingegen wurde anscheinend kaum praktiziert, dafür umso mehr von Seiten der Verantwortlichen kolportiert.

  • „Es ist unverantwortlich, dass überhaupt soviele Kinder zu einer derartig gefährlichen Verantstaltung gekommen sind.“

Natürlich nicht, denn zum einen war die Polizeiaktion mit ihrer gewaltbereiten Ausrichtung wohl anscheinend mit Absicht vorverlegt und verschleiert worden. Zum anderen würde das bedeuten, dass Kinder, Kranke und alte Menschen prinzipiell nicht demonstrieren dürften, weil es auf jeder Demonstration einen Irren geben könnte, der eine gewaltsame Aktion gegen Polizisten ausführt oder eine übermotivierte, mit entsprechendem Auftrag versehene Polizeitruppe, die unvermittelt anrückt. Die Gefahr wäre so nicht zu verantworten. Zudem gefällt mir prinzipiell nicht diese Unterscheidung zwischen Frauen,Kindern und Alten einerseits und jungen gesunden Männern anderseits. Diese Unterscheidung wird von beiden Seiten im Konflikt gemacht und klingt so, als wäre es in Ordnung, junge Männer zu verprügeln. Jedoch ist es dann nicht mehr weit, bis Kinder nur noch in Begleitung ihrer Eltern und Frauen unter der Obhut ihrer Ehemänner demonstrieren dürfen.

  • „Die Bahngegner hätten längst im Vorfeld gegen das Projekt einschreiten können, nun ist es zu spät.“

Dass es zu spät ist, hat die Bundesregierung bereits mit der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke widerlegt. Generell zu recht, denn politische Entscheidungen müssen zwar verläßlich sein, sind aber nicht in Stein gemeißelt, weil sich Wahrnehmung und reale Situation ändern können. Und zumindest die Wahrnehmung hat sich in Stuttgart offensichtlich massiv geändert. Insofern ist es als erstes möglicherweise eine berechtigte Kritik zu sagen, dass Einwände zu spät kommen, aber keine Rechtfertigung sie zu ignorieren und abzubügeln.
Die Bauplanungen eines solchen Bahnhofs jedoch übersteigen die Vorstellungsmöglichkeit eines durchschnittlichen Bürgers, solange sie sich in der Planungsphase befinden. Dies ist ein prinzipielles Problem auf Seiten der Bürger, das ihnen jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, sondern mit dem die Politik bewußt umgehen muss, um rechtzeitig für die nötige und eine verständliche Transparenz zu sorgen. Dies ist nicht geschehen, statt dessen hat die Politik möglicherweise absichtlich versucht, das Projekt möglichst ohne Bürgerintervention durchzudrücken.

Zu guter Letzt…

… wird mir menschlich übel, wenn ich sehe wie zynisch und technokratisch mit den Opfern umgegangen wird. Ein ehrliches Bedauern der Opfer durch die verantworlichen Politiker und Polizisten außer dem an der eigenen schwierigen Lage konnte ich nicht heraushören.
… ebenso übel finde ich das Verhalten der Parteien, der schwarzgelben Koalition unter Frau Merkel einerseits, den Grünen andererseits und der SPD hilflos zwischendrin, die nun versuchen, politisches Kapital aus der Situation zu schlagen und nicht hauptsächlich daran denken, das vorhandene Problem zu lösen.
… halte ich für nicht verzeihlich, wenn einige denken, durch Gewalt zu Gegengewalt berechtigt zu sein, und Angriffe auf die baden-württembergische Landesvertretung in Brüssel durchführen oder Morddrohungen gegen den Bahn-Chef Rüdiger Grube aussprechen.
… finde ich es politisch Unverantwortlich, wenn Politiker die kommenden Landtagswahl in Baden-Württemberg als Schicksalswahl für S21 hochstilisieren, da dies nur ein Thema von Landespolitik ist. Für richtig hingegen halte ich es, wenn die Bürger ihr generelles Vertrauen in bestimmte Parteien und Politiker auch abgesehen von anderen Sachfragen in ihre Wahlentscheidung einfließen lassen.
… glaube ich, dass es populistischer Schwachsinn ist, per Volkentscheid eine Auflösung des Landtags zu initiieren, wenn die Legislaturperiode ohnehin nur noch fünf Monate läuft. Selbst wenn dieses Projekt „Erfolg“ hat, wird er wohl schwerlich deutlich vor dem ohnehin geplanten Wahltermin Effekt zeigen. Dafür spaltet er die Aufmerksamkeit und die Protestbewegung mit einem Nebenkriegsschauplatz, den nicht jeder teilt und der wenig aussicht auf Erfolg hat. Hier werden die Demonstartionen wieder mal unnötig für politische Zwecke und blinden Aktionismus eingenommen.
… habe ich prinzipiell Respekt vor der Arbeit der Polizei, auch wenn es in einzelnen Situationen schwer fällt. Insbesondere die Kampftruppen geben zuweilen ein schlechtes Bild ab, dass dann zumeist ungerechtfertigt auf ihre „zivileren“ Kollegen abfärbt.
… halte ich es für falsch, wenn in Öffentlichkeit und Medien den friedlichen Demonstranten auf gewalttätigen Demonstrationen generell eine gerechtfertigte politische Meinung und das Recht auf Unversehrtheit abgesprochen wird. Die Angst um die Erhaltung der Gewaltfreiheit der Stuttgarter Demonstrationen zeigt recht deutlich, dass die (zum Glück ausgebliebene!) Gewalt einzelner Demonstranten die Glaubwürdigkeit von zehntausenden friedlicher Demonstranten zunichte machen könnte.
… lehne ich bislang fast alle Argumente der Pro21-Bewegung aus logisch-formalen Gründen ab. Ich hoffe jemand kennt mal eine Seite, die diese ja vorhandenen Argumente, vernünftig und nachvollziehbar darstellt.
… gilt mein Respekt (neben Marietta Slomka) den unermüdlich und friedlich demonstrierenden Bürgern in Stuttgart, die mit hohem persönlichen Einsatz auf die Straße gehen, um ihre Meinung kundzutun (prinzipiell gilt das auch für die Pro21-Demonstranten, allerdings werden die weniger naßgespritzt und scheinen mir irgendwie auch besser ausgestattet)

Update (01:58 Uhr):
Links zu den Textteilen „Bilder des Polizeieinsatzes in Stuttgart“ und „Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke“ ergänzt.

Update (02:35 Uhr):
Textpassage „… halte ich es für falsch, wenn in Öffentlichkeit und Medien den friedlichen Demonstranten auf […]“ ergänzt.

Update (18:07 Uhr):
Link zu dem Textteil „nicht heraushören“ ergänzt.

Das könnte dich auch interessieren …

2 Antworten

  1. Profilr sagt:

    Ja, Frau Slomka war sehr kompetent. Und auch ich glaube dass das den „schwarzen Herren“ nicht gefallen hat, wie es (dazu auch noch eine Frau) wagen kann, den Herrschaftsanspruch oder die Unfehlbarkeitkeit solcher „Herrscher von Gottes Gnade“ auch nur im Geringsten anzuzweifeln…
    Gut konnte man das diesen Marionetten auch beim andauernden unverschämten „Ins-Wort-fallen“ einer Dame gegenüber anmerken. Wo bitte war (zu den obigen beschiebenen Falschaussagen dazu) ihr letztes bisschen Anstand ???
    Ein wichtiger Punkt dabei tatsächlich: „…Ihr Erscheinen bei relevanten Interviews in den nächsten Monaten statistisch zu verfolgen. Ich hoffe, dass es dann im Zweifelsfall auch eine Öffentlichkeit, die ihr zur Seite steht.“
    Ich bin dabei! Und sicher noch mehr vernünftige Menschen. Solche fähigen Leute dürfen nicht hinterrücks in den Medien abserviert werden!

    Und dies noch an ALLE Politiker:
    „Unsere Augen sind nicht mehr verschlossen, auch wenn ihr jetzt noch versucht unser Sehvermögen zu trüben – unser geistiges Auge hat Euch fixiert!“

  2. Aerar sagt:

    „Ich bin dabei! Und sicher noch mehr vernünftige Menschen. Solche fähigen Leute dürfen nicht hinterrücks in den Medien abserviert werden! “

    Das wäre gut. Ich selbst gucke leider nicht genug fern, um das selbst verfolgen zu können. Wenn ich aber von einer solchen Entwicklung hören würde, würde ich das hier bloggen.

Schreibe einen Kommentar