Verwässerte Demokratie?

Die Piratenpartei hat seit kurzem zur internen Entscheidungsfindung ein Abstimmungssystem namens „Liquid Democracy“ (oder auch „Liquid Feedback“) in Betrieb. Kurz gesagt handelt es sich um ein basisdemokratisches System, das politische Anträge verwaltet. Das heißt, die Mitglieder der Piratenpartei können dort Vorschläge einbringen, vorhandene Vorschläge kommentieren oder durch ihre Stimme unterstützen. Über diese Verwaltung von Anträgen hinaus besitzt das System zudem noch ein Stimmenmanagement, das es den Benutzern erlaubt, ihre Stimmen bei bestimmenten Fragen anderen Nutzern ihres Vertrauens leihweise und sofort widerruflich zur Verfügung zu stellen. Ein Erfahrungsbericht dazu findet sich hier.

Mit diesem System geht die Partei einen großen Schritt in Richtung Basidemokratie und bietet zugleich eine kontrollierte indirekte Möglichkeit zur Demokratie, indem es möglich ist, seine Stimme durch andere vertreten zu lassen. Gleichzeitig gibt es jedoch eine direkte Kontrolle des politischen Verhaltens des Begünstigten im System und die Möglichkeit, die Stimme bei Missfallen sofort und nicht erst nach Ablauf einer Wahlperiode zurückzuverlangen. Auf die konkrete Umsetzung und eventuelle Probleme mit dem Datenschutz will ich dabei nicht weiter eingehen, sondern ich frage mich, ob das System der Piratenpartei abstrakt ein gutes demokratisches Mittel ist und als Verbesserung des bestehenden politischen Systems in einem demokratischen Land, speziell in Deutschland, eingesetzt werden könnte.

Meines Erachtens bestehen innerhalb einer Demokratie folgende prinzipiellen Probleme, deren konkrete Lösungsgestaltung zudem eine Einstellungssache ist:

Direktheit:

Der Grad der Direktheit einer Demokratie bestimmt, wie detailliert der Bürger direkten Einfluss auf konkrete politische Entscheidungen hat. Derzeit ist diese Entscheidungsbefugnis sehr indirekt, indem der Bürger bei Wahlen Abgeordnete und Parteien wählt, die daraufhin für eine gegebene Wahlperiode nach eigenem Ermessen die Belange aller Bürger entscheiden. Dem Bürger bleibt nur, das Verhalten dieser Abgeordneten zu überwachen und von außen zu beeinflussen. Eine direkte Einflussnahme außerhalb von einigen wenigen Volksabstimmungen hat er nicht. Der entscheidende Nachteil besteht in der Abhängigkeit von den Abgeordneten, in die sich der Bürger begibt. Ein großer Vorteil ist jedoch die breite Beteiligung, da eine Wahl etwa alle vier Jahre stattfindet und von den meisten Bürgern als wichtig genug empfunden wird, sich daran zu beteiligen.

Die Frage, ob das System der Piratenpartei besser ist als das bestehende hängt davon ab, wie viele und zu welchem Grad die Bürger bereit sind, tatsächlich politische Einzelentscheidungen zu beeinflussen. Denn dieses bedeutet einen deutlich höheren Informations- und Verwaltungsaufwand, von dem ich vermute, dass viele diesen nicht betreiben wollen. In meinen Augen wäre es daher eine Voraussetzung, dass Liquid Democracy mit dem bestehenden periodischen Wahlsystem zu kombinieren und regelmäßig „verpflichtende“ Wahlen durchzuführen. Andernfalls befürchte ich, dass ein Großteil der Stimmen ungebraucht (also weder selbst benutzt noch transferiert) verpufft und sich die politische Macht faktisch auf die Schultern eines kleinen Anteils interessierter konzentriert.

Professionalität:

Damit verbunden ist die Frage nach der Professionalität der Politik, die man sich wünscht. Das Verstehen politischer Zusammenhänge verlangt meist ein fächerübergreifendes Wissen und sehr viel Arbeitseinsatz. Diesen Grad an Kenntnis wird ein durchschnittlicher Bürger nicht erreichen können. Ein hauptamtlicher Politiker könnte diesem Verstehen zumindest besser gerecht werden. Andererseits verengt diese Professionalisierung auch den Blick und viele Entscheidungen wirken abstrakt und können möglicherweise an den tatsächlichen Bedürfnissen der Bürger trotzdem vorbeigehen.

Durch das „Liquid Democracy“-System wird die Politik tendenziell entprofessionalisiert, weil die theoretische Einflussnahme des Einzelnen gestärkt wird. Die einzelne politische Stimme wird zumindest „akademisch“ unwissender. Andererseits könnte die stärkere Beteiligung an politischen Fragen zum einen das durchschnittliche Demokratieverständnis langfristig steigern und bei konkreten Fragen könnte durch den Diskussionsprozeß und durch den „Schwarm“-Effekt (Wissen der Massen) eine „intelligente“ Lösung gefunden werden. Ich denke insgesamt wird das System weniger professionelle und eher emotionale Entscheidungen liefern. Ob man diese Entscheidungen dann „naiv“, „ineffektiv“ oder „menschlicher“ nennt, muss jeder für sich entscheiden.

Korruption und Beeinflussung:

In jedem System, in dem fremde oder allgemeine Güter verwaltet werden, besteht die Gefahr der Korruption und Beeinflussung. Einzelne oder bestimmte Interessengruppen versuchen dann das System und Verteilungsvorgänge zu ihrem Vorteil zu gestalten. Die Grenzen zwischen legaler und illegaler Einflussnahme sind dabei jedesmal fließend und zudem definitionsabhängig (Gesetzgebung).

In der „Liquid Democracy“ werden die Machtzentren vermutlich kleiner ausfallen und unterstehen zudem einer direkten Sanktionsmöglichkeit. Diese Punkte sollte ungewollte Einflussnahmen erschweren. Andererseits ist das System komplizierter und es gibt zahlreiche Machtzentren, was die Kontrolle erschwert und die Einstiegshürde für Beeinflussung vermutlich verringern wird. Durch die Entprofessionalisierung und die gesteigerte Direktheit ist die „Liquid Democracy“ zudem anfällig für Polemiker und Meinungsmacher.

Entscheidungsfähigkeit:

Die Entscheidungsfähigkeit der Demokratie hängt von der Fähigkeit ab, sinnvolle politische Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Das Problem besteht darin, dass jede Entscheidung immer Befürworter und Gegner hat und dazwischen einen beliebigen Zwischenbereich an prinzipiell Einverstandenen, die aber Änderungswünsche haben. Wenn eine politische Macht genügend Einfluss hat, kann sie Entscheidungen in gewissen Rahmen gegen Widerstände durchdrücken. Andernfalls entfallen Maßnahmen als nicht konsensfähig oder es müssen Kompromisse gefunden werden. Meiner persönlichen Meinung nach ist es klar, dass es notwendig ist, überhaupt Entscheidungen zu treffen, da sonst das politische System überflüssig wäre. In meiner Beobachtung werden jedoch in Kompromisssituationen allzuhäufig Entscheidungen getroffen, die im Kompromissverfahren derart verwässert wurden, dass sie unbrauchbar oder im Zweifelsfall gar schädlich geworden sind.

Im Idealfall ist die „Liquid Democracy“ vielstimmig, denn andernfalls wäre sie kaum eine Veränderung zum bestehenden System. Diese Vielstimmigkeit erschwert die politische Entscheidungsfindung und wird häufiger zu nicht getroffenen oder weichgespülten Entscheidungen führen. Andererseits haben, die Entscheidungen die mit Einvernehmen getroffen wurden, eine breite Zustimmung und sind zudem wahrscheinlich eingehend diskutiert und untersucht worden.

Zwischenfazit:

Insgesamt fällt es schwer, in der Kürze dieses Artikels eine auch nur vorläufige Bewertung des Systems der „Liquid Democracy“ zu finden, womit dieser Artikel im Sinne dieses Blogs ein Anstoß zum Nachdenken und zur Diskussion bleibt. Einige voraussichtliche Stärken und Schwächen kristallisieren sich zwar jetzt bereits heraus, wobei deren Bewertung jedoch teilweise eine Frage der eigenen politischen Einstellung bleibt. In meinen Augen hängt viel von der konkreten Ausgestaltung und der Akzeptanz und Beteiligung der Teilnehmer ab. Insofern handelt es sich um ein spannendes Experiment der Piratenpartei, dessen erste Ergebnisse man aufmerksam und kritisch verfolgen muss.

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